Rezension: Das kann nich jeda, sagt mein Bruder Benni, der mega coole Behindi (Maria M. Koch)

Rezension: Das kann nich jeda, sagt mein Bruder Benni, der mega coole Behindi (Maria M. Koch)

Das kann nich jeda, sagt mein Bruder Benni, der mega coole Behindi
Maria M. Koch

196 Seiten
Print EUR 9,50 | kindle EUR 3,99
ISBN 9789403648491
Erschienen 2021, leider nicht im ePub-Format erhältlich.

Ersteindruck

Auf den ersten Blick wirkt das Cover wie selbst gebastelt und das ist es auch. Als Käufer zugegriffen hätte ich nicht, weil der unruhige Hintergrund und dieser Jugendslang – vor allem der Ausdruck „Behindi“ mich abschreckt. Zudem ist die Schrift des für meinen Geschmack zu langen Titels schlecht und der Klappentext auf der Rückseite stellenweise gar nicht lesbar.
Aber man soll ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen und ich bedanke mich bei Maria M. Koch für das zur Verfügung gestellte Druckbuch.

Leander muss die Pfingstferien zusammen mit dem geistig behinderten Benni verbringen.
Was nervig beginnt, wird zu verrückten Tagen, in denen Benni seinem Bruder vorlebt, um was es geht.

(Klappentext)

Mich fasziniert das Thema der Geschichte:
Zwei Brüder verbringen zusammen die Pfingstferien, einer davon geistig behindert. Für mich ein Lernfeld, da ich keinerlei Berührungspunkte mit Menschen mit geistiger Behinderung habe. Da frage ich mich sofort, warum die Brüder nur diese Ferien miteinander verbringen und nicht auch sonst miteinander aufwachsen und ob eine Aufsichtsperson zur Stelle ist, die auf die beiden Kinder aufpasst.

Lektüre

Das Buch liest sich aufgrund seiner einfachen Sprache schnell durch.

Ich lerne einen Teenager Namens Lenni kennen, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt ist.
Seine alleinerziehende berufstätige Mutter überlässt ihm allein die Verantwortung für den älteren Bruder. Durch seine Wortwahl wirkt er manchmal jünger als fünfzehn. Vor allem aber, und das stört mich massiv, scheint er seinen Bruder abgrundtief zu verachten. Und er schämt sich für ihn, er möchte nicht, dass seine Freunde von ihm erfahren. Er sieht nicht nur aufgrund seiner Einschränkungen auf Benni herab, er beleidigt ihn auch immer wieder – ohne jede Konsequenz. Seine Wandlung am Ende kaufe ich ihm nicht ab.
Dadurch entsteht für mich der Eindruck, dies solle der beispielhafte Umgang mit geistig behinderten Menschen sein. Das kann von der Autorin so nicht beabsichtigt sein. Sie ist laut Vita Sozialpädagogin und hat selbst einen geistig behinderten Sohn. Aber vielleicht hat sie ja auch nur beabsichtigt, mich ins Nachdenken zu bringen? Das ist gelungen!

Natürlich kann ich von einem Jugendlichen in dem Alter keine politische Korrektheit erwarten – ich weiß ja selbst nicht, wie sie in diesem Fall aussähe. Dennoch: „Nein!“, schreit mein Gewissen bei der Lektüre. „Das darf dir nicht gefallen! Das ist nicht politisch korrekt.“ Und das ist der Eindruck, der bleibt.
Mir fehlt auch das Motiv, warum Lenni so über seinen Bruder denkt, der doch sein ganzes Leben lang schon Teil der Familie gewesen sein muss. War da der Vater das Vorbild? Warum hält die Mutter nicht ausreichend dagegen? Das mit dem ungünstig gelegenen Geburtstag reicht mir da nicht.
Ich sehe, dass er sich von seinen Eltern nicht nur vernachlässigt fühlt, sondern meiner Meinung nach auch ist.
Was mich übrigens noch nervte, sind diese Sprachvergleiche. Weniger ist manchmal mehr.

Schwarze Schrift auf weißem Grund: Behinderte Menschen sind Geschenke in einer ganz besonderen Verpackung. Für Dominik und Fabian

Ich lerne aber auch einen jungen Erwachsenen namens Benni kennen, der das Herz am rechten Fleck hat. Er hilft seinem Nachbarn, Pfandflaschen wegzubringen, und bemüht sich, Versprechen einzuhalten.
Seinen Bruder nennt er „Lala“, was ich nicht gleich auf Anhieb kapiert habe. Soll er für drei Personen den Tisch decken, findet sich ein viertes Gedeck und er ist nicht in der Lage, alleine den Weg nach Hause zu finden. Viele der Konflikte in der Geschichte sind auf seine Behinderung zurückzuführen.
Sehr charakteristisch ist seine mitlesbare Sprachstörung. Nicht nur, dass er sagt „Ich wohn um“, um auszudrücken, dass er vorhat, umzuziehen, und zwar „Su Dani“ (zu Dani), sie ist auch seine „Feun-din“ – er braucht manchmal, um Worte zu beenden, daher sind Bindestriche eingefügt. Da ich schon ein Buch über einen Stotterer gelesen habe, das ähnlich umgesetzt war, hatte ich damit keine Probleme, im Gegenteil: Das brachte ihn mir sehr nahe.

Benni habe ich sofort ins Herz geschlossen, was Lenni leider bis zum Ende nicht gelingt. Was ich der Autorin lassen muss: Sie hat sehr lebendige und vermutlich authentische Hauptfiguren geschaffen.

Zum Handwerklichen

Traurig, dass ich das in einer Rezension überhaupt ansprechen muss.
In der Danksagung wird eine Lektorin erwähnt, die im Impressum nicht genannt wird. Wäre dies nicht der Fall, wäre ich davon ausgegangen, man habe nicht nur am Cover, sondern auch am Lektorat gespart.

Als erstes habe ich mir das Wort „Penetranz“ notiert, weil es meiner Meinung nach nicht zur gewählten Jugendsprache passt. Doch Lenni scheint ein sprachlich interessierter Mensch zu sein, vielleicht hat er dort ein besonderes Talent. Dann war mir sehr lange unklar, wie alt er eigentlich ist und ob Benni der ältere Bruder ist.

Die Beziehung zwischen Lenni und seinem Lehrer, geschildert aus der Sicht des Schülers, wirkt derart bedrohlich auf mich, dass ich dem Mann sonst was zugetraut hätte. Ich lese wohl zu viele Thriller. xD

Die Erzählzeit sprang für mich nicht nachvollziehbar von Vergangenheit zu Gegenwart um. Sollte es als Stilmittel eingesetzt worden sein, so gilt auch hier: Weniger ist mehr.

Was ich absolut nicht nachvollziehen konnte, war der Kurzauftritt des Mitschülers, den Lenni in seiner gewohnt unsensiblen Art mit den falschen Pronomen bezeichnet und den Deadname herumposaunt. Spätestens hier hatte er bei mir total verschissen. Man outet andere Leute nicht, nicht in deren Beisein und nicht hinter deren Rücken!
Ging es Maria hierbei darum, Solidarität für trans* zu zeigen? Der Schuss ging nach hinten los.

Beim Buchsatz hat sich die Autorin laut Impressum auf publish4you verlassen. Das Ergebnis ist, dass deutsche Anführungszeichen verwendet wurden anstelle der im Buchdruck üblichen. Weiterhin sind die ersten Zeilen neuer Absätze nicht eingerückt. Dafür ist die Schriftgröße angenehm groß, deutlich größer als bei herkömmlicher Belletristik. Ich bevorzuge mittlerweile ebooks, weil ich dort die Schriftgröße skalieren kann. Das war hier nicht nötig (und auch nicht möglich ;) ) und auch die Zeilenabstände waren ungewöhnlich weit, was zur Größe der Schrift passt.
Für mich ist das schwierig, zu dem Absatz zurückzufinden, bei dem ich zuletzt war, wenn am linken Rand alles eine gerade Linie ist. Leider muss ich häufiger zurückspringen, weil meine Konzentration nicht mehr die beste ist.
Zweimal fehlte eine Leerzeile, es gab nicht einmal einen Zeilenwechsel trotz Szenenwechsel, was meinen Lesefluss störte.
Noch eine formale Besonderheit: Es gibt keinerlei Einteilung in Kapitel, auch wenn die Überschrift „Etwas von später“ ganz zu Beginn des Textes darauf schließen lässt. Es reiht sich Szene an Szene.

Fazit

Ich bin von der Lektüre enttäuscht und hinsichtlich einer Leseempfehlung zwiegespalten. Am Ende hätte ich gerne noch weitergelesen, um zu erfahren, wie Lenni sich nach den Ferien in der Schule schlägt und wie es Benni danach ergeht.

Fragst Du mich, ob dieses Produkt im Verhältnis zu vergleichbarer Ware 9,50 EUR wert ist, kann ich nur darauf hinweisen, dass eigentlich alle Bücher viel zu billig sind, wenn man darauf schaut, was Autor:innen daran verdienen. Trotzdem bekommt man fürs selbe Geld auch bessere Qualität, aber eben nicht genau diese Geschichte.
Ich finde sehr schade, was hier auf den letzten Schritten im Wege der Veröffentlichung versäumt wurde. Es wirkt wie eben husch-husch, nur raus damit.

Fragst Du mich, ob es sich lohnt, Benni kennenzulernen: Entschiedenes Ja!
Ich bin sicher, viele Leser:innen, die nicht selbst schreiben, haben ihre Freude an der Lektüre.