Heute war ein guter Tag. Es hätte eine gute Woche werden können, hätte ich keine Termine gehabt. Immerhin hatte ich fast eine Woche ausreichend schlafen können und sogar überwiegend nachts. Das ist selten.
Ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass es mir so bald wieder so gut gehen würde. Noch vor zwei Wochen hatte ich es nur zu Toilettengängen gerade so aus dem Bett geschafft. Nur mithilfe von Krücken hatte ich es überhaupt alleine ins Bad geschafft, unter starken Schmerzen. So schwach hatten meine Beine sich noch nie angefühlt und meine Krücken wackelten unter der Last meiner hundertfünfzig Kilo, für die sie eigentlich gar nicht ausgelegt sind. Richtig aufrichten konnte ich mich wegen des entzündeten Rückens überhaupt nicht mehr und ich legte auch gar keinen Wert darauf. Ich wollte mich nur erleichtern und dann zurück ins Bett, auf Schlaf hoffen und irgendwie diese Scheiße durchstehen.
So schlimm war es zuvor noch nie gewesen und ich bekam es richtig mit der Angst zu tun. Was, wenn ich eines Tages nicht mehr ohne Hilfe aus dem Bett kam?
Sobald ich meinen Schreibtisch wieder erreichen konnte, mailte ich meiner Ärztin und teilte ihr mit, dass ich mich nicht mehr alleine versorgen kann. Sie riet mir dazu, umgehend einen Antrag auf Pflegegrad zu stellen, und ich bat um ein Rezept für einen Elektrorollstuhl.
Weil heute ein guter Tag war, öffnete ich dem Herrn Fischer vom Sanitätshaus selbst die Tür. Ich konnte zwar das Haus nicht verlassen, aber Spaziergänge von zwei bis drei Minuten im Garten unternehmen, also auch den Briefkasten leeren und eben auch die Tür öffnen, wenn es klingelte.
Nach kurzem Vorgeplänkel fragte mich Herr Fischer: »Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, einen Rollstuhl zu brauchen?«
»Tragen Sie Ihre Brille rund um die Uhr?«
»Nachts schlafe ich ja, da brauche ich nichts zu sehen.« Er lachte unsicher.
»Ich frage mal anders: Brauchen Sie Ihre Winterjacke auch im Sommer?«
»Nein. Es ist ja nur im Winter kalt. Im Sommer wäre das doch viel zu heiß. Aber eine Jacke ist ja auch kein Hilfsmittel, sondern Kleidung. Wo ist denn da der Zusammenhang?«
Ich seufzte.
»Haben Sie noch nie den Begriff ›ambulatory wheelchair user‹ gehört? Der bezeichnet Menschen mit zum Teil unsichtbaren Behinderungen, die ihren Rollstuhl nur bei Bedarf benötigen, etwa um längere Strecken zurückzulegen.«
»Unsichtbare Behinderungen?«
Meine Güte, der machte den Job wohl wirklich noch nicht lange.
»Haben Sie schon einmal von Myalgischer Enzephalomyelitis gehört?«
Kopfschütteln.
»Von ME/CFS?«
Abermals verneinte er.
»Stellen Sie sich vor, Ihnen fällt ohne Vorwarnung plötzlich das Handy ins Klo. Sie fischen es sofort raus und der Bildschirm bleibt schwarz, egal was Sie machen. Sie wollen es natürlich nicht einfach wegwerfen, immerhin sind wichtige Daten drauf. Also legen sie es in Reis, damit es schneller trocknet, in der Hoffnung, dass es schon wieder wird.
Es geht dann nach einiger Zeit wieder an und Sie haben Zugriff auf die meisten Funktionen. Die Telefonnummern von Ihren Freunden sind da, Ihre Lieblingsmusik ist hin. So in etwa. Vor allem aber: Der Akku ist kaputt. Das Scheißding braucht ewig zum Laden und lädt überhaupt nicht mehr richtig voll.
Und so ist das bei mir auch. Ich kann mich nicht mehr richtig erholen.
Nach einem Crash bin ich für eine unbestimmte Zeit komplett außer Betrieb und danach gibts Funktionseinschränkungen unbekannter Art. Das ist mir im August passiert.
Ein Handy können Sie je nach Geldbeutel einfach ersetzen, den eigenen Körper natürlich nicht. Dafür gibt es Hilfsmittel, um Aktivitäten zu ermöglichen, die ohne dieses Hilfsmittel unmöglich sind.
Nachdem Ihnen einmal ein Handy ins Klo gefallen ist und Sie Ärger damit hatten, sind Sie natürlich besonders vorsichtig und achten darauf, dass Ihnen das nicht so schnell wieder passiert. Wer weiß, was dann alles kaputt ist. Mal haben Sie Glück und es bleibt nur mehr oder weniger lange der Bildschirm schwarz und danach ist das Gerät wie neu, mal haben Sie Pech und es gibt weitere Schäden oder es geht überhaupt nicht mehr an.
Das ist der Grund, warum ich um jeden Preis zu vermeiden versuche, mich noch einmal derart zu übernehmen. Es kann sein, dass ich mich nach Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren erhole, als wäre nichts gewesen. Es kann aber auch in eine Bettlägerigkeit führen, aus der man nie mehr herauskommt.
Und dieser Rollstuhl gehört zu meinen Prophylaxemaßnahmen. Ich brauche ihn, um Arztpraxen aufsuchen zu können und an ausgesuchten Freizeitaktivitäten teilzuhaben, ohne meine individuelle tägliche Belastungsgrenze zu überschreiten. Denn überschreite ich die, bekomme ich PEM, eine heftige Zustandsverschlechterung, die eben von Dauer sein kann.
Und wenn ich erst PEM habe, brauche ich ihn, um überhaupt aufs Klo zu kommen.
Unabhängig davon schaffe ich die Viertelstunde Fußweg zur Praxis leider auch an guten Tagen nicht mehr, weil die Muskeln nicht mehr mitmachen.«
»Aber ein junger Mann wie Sie … mit einem Rollstuhl sind sie doch total eingeschränkt.«
Mein Gott, Behinderung hat doch nichts mit dem Alter zu tun.
»Herr Fischer, ohne Rollstuhl kann ich meine Wohnung überhaupt nicht verlassen, von einem kleinen Spaziergang in den Garten alle paar Tage mal abgesehen. Ein Rollstuhl bedeutet Freiheit.«
»Haben Sie denn gar nicht an einen Rollator gedacht?«
»Mit einem Rollator hätte ich dasselbe Problem wie mit den Krücken: Ich muss mich drauf abstützen und das geht auf die Arme. Ich habe ein Problem mit der Ausdauer, keine Querschnittslähmung.«
»Ehrlich gesagt denke ich auch, dass regelmäßige Bewegung Ihnen da am ehesten helfen könnte. Da spricht ja auch der Physiotherapeut aus mir.«
»Herr Fischer, ich bitte Sie! Aktivierungstherapie ist bei ME/CFS absolut kontraindiziert.«
Betreten schwieg er für einen Moment.
»Es gibt auch einen Rollator, der lässt sich flexibel umbauen in einen Elektrorollstuhl. Wäre das vielleicht was für Sie?«
Das Ding habe ich natürlich sofort gegoogelt. »Herr Fischer, das ist ne richtig geile Idee. Aber leider bin ich zu schwer dafür.«
»Also doch die Standardversorgung. Wollen Sie denn mal Platz nehmen?«
Ich wollte. Die Probefahrt war recht kurzweilig. Ich habe es so richtig genossen, mir frische Luft um die Nase wehen zu lassen und auch, ordentlich Gas zu geben und den guten Herrn Fischer so ein bisschen abzuhängen.
Das Warten auf meinen Rolli hat inzwischen so lockdownmäßigen Charakter angenommen. Ich komme hier ums Verrecken nicht raus ohne das Ding. Das Einzige, was ich mir bis zu einmal in der Woche erlauben kann, sind Taxifahrten zu Arztpraxen. Und selbst die bekommen mir nicht immer. Dann liege ich wieder flach.
Geschrieben für einen Wettbewerb, bei dem ich zwar ausgeschieden bin, aber immerhin habe teilnehmen können.
Zum Glück habe ich mittlerweile meinen E-Rolli. Damit sind in Verbindung mit meinem privat finanzierten Gehörschutz Unternehmungen möglich, an die ich vorher im Traum nicht zu denken gewagt habe.
Fehlt nur die Begleitperson.
Euer Ingo S. Anders

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