Heute ist Totensonntag.
An diesem Tag ist es üblich, dass Hinterbliebene zum Friedhof gehen und die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen besuchen.
Heute möchte ich von meinem Vater erzählen, dem ich einen traurigen, verbitterten Text hinterherschrieb, der mit dem Titel „Tschüss.“ in Tobaksplitter zu finden ist.
Ich singe darin das Lied des einsamen Kindes, dessen Vater nie da war.
Es ist jetzt schon elf Jahre her, dass er gestorben ist. Ich kann mir das nie merken. Jedes Mal muss ich mich in unseren Familienstammbaum einloggen, um zu erfahren, dass er 2014 verstorben ist.
Von seinem Tod erfahren habe ich während einer Tagung, für die ich u.a. eine Lesung organisiert hatte. Meine Mutter hat extra mit dem Anruf gewartet, weil sie wusste, dass ich dort einen Auftritt hatte. Jedenfalls habe ich das so in Erinnerung … ihr wisst, die ist nicht mehr so ganz zuverlässig. Nicht meine Mutter, meine Erinnerung.
Zuvor war ich noch einmal zu Besuch gewesen und konnte mich von meinem Vater verabschieden, der nicht mehr sprechen konnte, mir aber mit Tränen in den Augen Zettelchen schrieb in seiner Hieroglyphen-Schrift.
Heute bin ich derjenige, der nur sehr eingeschränkt sprechen kann, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
Finanziell hing ich damals in der Luft zwischen ausgelaufenem Arbeitsvertrag und fehlendem Rentenanspruch.
Ich sagte ihm, es sei schwierig, in Hamburg etwas zu finden, weshalb er fragte, ob ich denn nicht ins Ausland gehen könne.
Natürlich kann man als Verwaltungsfachangestellter, Fachrichtung Bundesverwaltung, nicht einfach im Ausland in irgendeiner Behörde anfangen, wenn man etwas anderes tun will als Kaffee kochen und den Kopierer bedienen.
Weil mir aber klar war, wie wichtig es ihm war, mich versorgt zu wissen, log ich ihn an und behauptete, wenn ich wollte, könnte ich das tun.

Nach seinem Tod erst habe ich endlich loslassen können und ganz allmählich löste sich dieser dringende Wunsch, von ihm beachtet und anerkannt zu werden, mit ihm Zeit zu verbringen und all das andere Übliche, das Kinder sich von ihrem Vater wünschen.
Bis zu seinem Tod habe ich nur den Schmerz seiner Abwesenheit in meiner Kindheit gespürt und danach, als er dann wirklich unwiderbringlich abwesend war, habe ich erst erkannt, wo er überall anwesend war.
(Jaja, Fußspuren im Sand … „Da wo du nur eine Spur gesehen hast, da habe ich dich getragen.“
Genau so fühlt es sich gerade an.)
In dem Haus, das groß genug war, dass ich einen Rückzugsort hatte, zum Beispiel.
Mein Vater war genauso zartbesaitet wie ich und so konnte ich von dem profitieren, was auf seine Bedürfnisse zugeschnitten war.
Für alles, was man mit Geld kaufen kann, hat er gesorgt. Er hat eben das Geld verdient und meine Mutter hat sich um die Kinder und den Haushalt gekümmert – und Geld verdient.
Nicht ganz die klassische Rollenverteilung, schon ein Schritt in die heute so verbreitete Doppelbelastung der Mütter.
Sein Grab besucht habe ich nie seit der Beisetzung. Das liegt weniger daran, dass ich dazu durchs halbe Land fahren müsste, sondern eher daran, dass ich keinen besonderen Ort zum Trauern und Gedenken brauche. Meistens tue ich das zu Hause, oft schreibend.
Und wenn ich mir jetzt anschaue, welche Merkmale alle für Autismus sprechen, den ich bei mir ja auch sehe, dann erklärt mir das auch seine Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen noch mal ganz anders als „Er wurde halt so erzogen.“
Anerzogene Muster kann man leicht durchbrechen. Sich rund um die Uhr eine Maske aufsetzen müssen, ist eine ganz andere Hausnummer.
Euer Ingo S. Anders

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