Urban Fantasy going Fat
Herausgebende: Aşkın-Hayat Doğan & Elea Brandt
Anthologie
194 Seiten, Ergänzung 20 Seiten
Paperback 14,99 EUR, ebook 3,99 EUR
Erschienen am 12.06.2023
Ersteindruck
Das Buchcover hat es mir auf den ersten Blick angetan.
Es zeigt vor pink-schwarzem Hintergrund einen vitruvianischen Mensch mit einem dicken_fetten Mann. Das bekannte Original mit einem schlanken Mann ist eine Proportionsstudie von Leonardo da Vinci und ein Symbol für die Ästhetik der Renaissance.
Ich finde es sehr passend zum Thema, denn ich mache mir durch die Lektüre dieses Buches gerade Gedanken um dicke_fette Proportionen und deren heutige Ästhetik.
Klappentext
Die Stadt hat viele Facetten und Raum für Geschichten abseits langweiliger Konventionen: Magie sammelt sich an Straßen und Plätzen. Übernatürliche Wesen bevölkern die urbane Umgebung – darunter Drachen, magisch begabte Menschen und ganz alltägliche Held*innen, die sich verlieben, Trauerarbeit leisten und sich zwischen Rush Hour und Ruhepolen bewegen.
15 Own-Voice-Autor*innen erzählen Geschichten von dicken_fetten Hauptfiguren, die in Städten und Metropolen Raum einnehmen – auch wörtlich. Laut! Fordernd! Selbstbewusst!
Lektüre
Zu jeder Geschichte gibt es Inhaltswarnungen im Buch.
Über das Bonusmaterial, das ich bei der BuchBerlin vom Verlag ohneohren geschenkt bekam, habe ich mich als erstes hergemacht.
Juliane Seidel – Im Fokus
Eine Fotografin, die mit ihrer Freundin einen Lost Place besucht.
Mir hat gefallen, wie wenig hier das Thema Gewicht im Fokus steht. Die Geschichte steht und fällt nicht damit. Bei der knarzenden Treppe und der bangen Frage, ob die Treppe halten wird, fand ich mich voll wieder.
Ein schöner Auftakt für die Anthologie.
Bereits das Vorwort ist der Hammer. Ich bin fett, ich bezeichne mich selbst als fett und finde es richtig, den Begriff zurückzuerobern und nicht jenen zu überlassen, die ihn als Schimpfwort benutzen.
Dann habe ich das schöne Lesezeichen benutzt und die anderen 15 Geschichten der Own Voices gelesen.
Gloria H. Manderfeld – Das Lied der Stadt
Mit Anne unternahm ich eine Reise nach Lissabon, die diese ursprünglich mit ihrer jetzt Ex-Freundin hatte unternehmen wollen, und erlebte eine überraschende Wendung.
Mir hat sehr gefallen, wie schön dicht die Erzählung ist. In Anne konnte ich mich gut hineinversetzen, auch ich schwitze bei jeder Gelegenheit.
Jenny Wood – Eine Münze für einen Gefallen
Selen bekommt einen Auftrag, für dessen Erfüllung eine Münze als Belohnung lockt. Wieder geht es an einen Lost Place. Durch die von mir gelesenen Content Notes glaubte ich, mir denken zu können, in welche Richtung es geht und wurde wieder einmal überrascht.
Was mir nicht so gut gefallen hat, war die abschätzige Sprache, die manchmal dazuzugehören scheint: Der Sohn des Auftraggebers wird als „Brut“ bezeichnet. Ich kam auch nicht so ganz mit, was wer warum wollte. Vielleicht hätte der Geschichte etwas mehr Raum gut getan, um die Hintergründe aufzudecken
Aber die Kampfszene hat mich vollends überzeugt. Da lief ein richtiger Film vor meinem inneren Auge ab!
Als die Geschichte zu Ende war, hätte ich gerne weitergelesen.
Sina Schmidt – Der falsche Dozent
Lea gibt sich schüchtern und unsicher, um ihren Dozenten, dem schon so viele zum Opfer fielen, ihrerseits in eine Falle zu locken. Die Geschichte spielt in Hamburg.
Bäm! Pageturner. Diese Geschichte finde ich richtig wow!
Es ist die erste Geschichte, die ich lese, in der Neopronomen verwendet werden. Hier finde ich die Kraftausdrücke passend, vor denen ich gewarnt worden bin.
Cosima Lang – Melodie und Drachengold
Mit der blonden Emily im verführerischen roten Kleid geht es zu einem Date und es wird magisch…
Hier fand ich es sehr spannend, welchen Einfluss auf den Text alles das hat, was nicht zur wörtlichen Rede gehört. Denn die ist in weiten Teilen, nun ja, bewusst langweilig gehalten – bis die Story dann plötzlich Fahrt aufnimmt. Unterm Strich ist die Geschichte sehr kurzweilig.
Tristan Lánstad – Hortprobleme
Awww, wie schön! In dieser Geschichte geht es um einen Drachen, der in einer Zentralbank auf einem Haufen Goldmünzen sitzt und einen … Eindringling.
Der Dialog ist zuckersüß und amüsant.
Tristan hat mir übrigens das Buch signiert, weil er zufällig am ohneohrigen Stand war, als ich dort war.
Alex Prum – Vexibel
Nun ist Sport angesagt, aber sowas von! Eine Sportveranstaltung magischer Wesen mitten in Bielefeld.
Ich konnte der dicht erzählten Handlung sehr gut folgen und fand sie auch spannend, bis sie mir auf die Dauer etwas langatmig wurde.
Aşkın-Hayat Doğan – Döner is scho‘ a guta Sach
In dieser Geschichte umwirbt ein absoluter Unsympath auf der Suche nach einem Werbegesicht einen schwäbisch schwätzenden Promi.
Diese Geschichte hat mich zum Lachen gebracht, auch wenn ich mir etwas Mühe geben musste, die Mundart zu verstehen.
Oliver Baeck – Crossroads
Wir begleiten hier zwei Wesen. Das eine ist der Geist eines verstorbenen Mannes und das andere ist jemand, dessen Aufgabe ist, diesen Geist zu begleiten.
Auffällig ist, dass immer wieder Passagen rechtsbündig formatiert sind und diese sind die, die mich sehr verwirrt zurücklassen, weil ich sie nicht einordnen kann. In den linksbündigen Passagen wirkt dieser rundliche Begleiter sehr menschlich, in den rechtsbündigen Passagen scheint der Ich-Erzähler etwas anderes zu sein, alles deutet jetzt auf die Erzählung eines indigenen Volkes hin.
Ich habe diese Geschichte jetzt mindestens zweimal gelesen und ich muss gestehen, ich verstehe das Ende nicht.
Dyn Quing – With Me;
In dieser Geschichte geht es um gestaltwandelnde Wesen. Wer sich über Repräsentanz nicht-binärer Figuren mit Neopronomen freut, ist hier richtig.
Meins ist das nicht, das Gestaltwandeln. Sorry.
Murphy Malone – Zusammen können wir einfach sein
Hier machen wir einen Ausflug in einen Playroom. Trans* und lesbische Repräsentation.
Ich mags. :)
Amalia Zeichnerin – Alle zusammen
Diese Geschichte spielt in einer Hamburger Werbeagentur. Gefühlt die Hälfte der Geschichte besteht aus Personenbeschreibungen. Es wird sehr viel Wert auf Diversity gelegt – so sehr, dass „normschöne Menschen“, die es neben anderen Menschen und „Homines Supernaturales“ auch noch gibt, von der Abbildung auf einem Plakat ausgeschlossen werden.
Die Neopronomen überfordern mich teilweise, weil ich nicht weiß, was bzw. wer jeweils gemeint ist.
Melanie Schneider – Herzkompression
Die Geschichte beginnt mit der schockierenden Nachricht, dass das Geschwister – mein Geschwister, denn ich werde geduzt – überfallen wurde. Dann beginnt eine wilde Jagd in Kompressionsstrumpfhosen, die ich nicht so recht einordnen kann, da ich meinte, ich sei auf dem Weg ins Krankenhaus, um das Geschwister zu besuchen.
Elea Brandt – Die Königin der Nacht
Auch diese Geschichte ist in der 2. Person erzählt. Du bist tot, du weißt es nur noch nicht. So beginnt es … Am Ende weiß ich, dass ich den Satz am Anfang völlig falsch interpretiert habe.
Lucie H. & Jessica Bradley – Eine ungewöhnliche Begegnung
Diese Geschichte scheint ein Fall für Fans von Herr der Ringe. Und es gibt Kuchen! Aber ohne die Content Notes würde ich das Ende bzw. die ganze Geschichte ganz anders auffassen, hm …
Fazit
Insgesamt betrachtet bin ich verwundert darüber, wie wenig das Gewicht der Protagonist:innen bei einigen Geschichten ins Gewicht fällt. Wirklich spürbar wird es nur bei Juliane Seidel, manche Autor:innen beschränken sich auf Beschreibung von Figuren oder das bloße Benennen der Tatsache, dass eine Person dick_fett sei. Außer bei der Geschichte der Bradleys und Amalia Zeichnerins Werbekampagne scheint es auch keine direkte Folgen zu haben, dass die Protagonist:innen dick_fett sind. Ist das Casual Fatness im Sinne einer Body Positivity oder Fat Positivity?
Fest steht, dass ich mich mit den meisten Geschichten sehr wohl gefühlt habe. Meine Lieblingsgeschichte ist „Hortprobleme“ von Tristan.
Aus meiner Sicht klare Leseempfehlung für Freunde der Urban Fantasy, die Diversität schätzen.
Euer Ingo S. Anders

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