Man wollte nicht mit mir gesehen werden, als ich noch kein Passing hatte, aus Angst, dann auch für trans* oder schwul gehalten zu werden. Ich verstand das nicht. Jetzt verstehe ich.
Wer Angst hat und die Wahl, sich zu verstecken, wird das tun.
Viel Zeit verbringe ich zu Hause an meinem Schreibtisch. Meist deshalb, weil ich mich dort wohlfühle innerhalb meiner Komfortzone. Ich kann mich schreibend der ganzen Welt mitteilen und weil mein Computer mobil ist, kann ich mein Zuhause überallhin mitnehmen.
Doch an diesem Tag im Jahr 2022 saß ich vor Angst wie gelähmt auf meinem Stuhl.
Über die sozialen Medien hatte ich eine Einladung zu einer Gedenkveranstaltung erhalten. Der 25-jährige Malte C. war getötet worden. In Münster in Deutschland. Einfach nur deshalb, weil er als Ordner beim CSD seinen Job gemacht und eingegriffen hat, als jemand im Publikum Demonstrierende homophob beleidigt und angepöbelt hat. Worte wie »lesbische Hure« und »verpisst euch« fielen. Malte hat lediglich darum gebeten, dies zu unterlassen. Daraufhin wurde er tätlich angegriffen: Er wurde derart heftig ins Gesicht geschlagen, dass er das Gleichgewicht verlor. Noch im Taumeln bekam er einen zweiten Faustschlag ins Gesicht, stürzte und knallte unglücklich mit dem Hinterkopf auf den Boden. Im Krankenhaus wachte er noch einmal auf, erlag aber dann nach einiger Zeit im künstlichen Koma seinen Verletzungen. Der Täter erhielt eine fünfjährige Jugendstrafe; eine homophobe, queer- oder transfeindliche Einstellung sah das Gericht nicht.
Dieser junge trans Mann hat sein Leben gegeben, um andere aus der Community zu beschützen. Und ich feige Sau hocke zu Hause und habe nicht mal die Eier, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Schlimmer noch, ich rede mir ein, dass man das doch jetzt nicht politisch ausschlachten darf. Ein Aufschrei ging damals durch die Community. Der LSVD beklagte, dass diese Tat nicht polizeilich als Hassverbrechen eingeordnet wurde. Manche Verbände brauchten auffällig lange, um sich überhaupt zu dem Vorfall zu äußern.
Mir selbst fehlten die Worte. Ich saß einfach da und kriegte den Hintern nicht hoch. Ich kannte den Verstorbenen nicht persönlich und doch empfand ich eine sehr starke Verbundenheit. Er war doch einer von uns! Es hätte auch mich treffen können, wenn ich mehr Risiken einginge. Wenn ich ein freieres Leben führen würde.
So versammelten sich am Hamburger Hauptbahnhof ein trauriges Dutzend Menschen und ich blieb daheim. Ich blieb bei immer mehr queeren Veranstaltungen zu Hause, aus Angst, auf dem Weg überfallen und ebenfalls Opfer zu werden.
Im Netz fiel mir immer mehr Hatespeech auf. Mehr und mehr Menschen, die ich bisher für normal gehalten hatte, sprachen sich offen gegen das Gendern aus. Auch außerhalb des Internets, wo ich im direkten Kontakt stand und die Person nicht blockieren konnte, wenn es mir zu viel wurde. Menschen, die sich selbst als alte weiße cis Männer bezeichneten und sich damit das Recht rausnahmen, keine Rücksicht nehmen zu müssen. Das sind Mikroaggressionen, die ich wahrnehme, und die mir sauer aufstoßen, ohne dass ich persönlich betroffen wäre. Ich bin binär, ich könnte auch mit binär gegenderten Texten leben, da ich ein Mann bin auch mit dem generischen Maskulinum. Und doch sagt mir dieses Sich-zur-Wehr-setzen gegen das sogenannte Gendern, das ja eigentlich ein Entgendern ist, ganz deutlich: »Du bist hier nicht willkommen!«
Jedes Jahr am 20. November ist der Transgender Day of Remembrance, kurz TDoR. Das ist der Tag, an dem aller verstorbenen inter, trans und nicht-binären Personen gedacht wird, die transfeindlicher Gewalt zum Opfer fielen. Das waren zwischen Oktober 2022 und Oktober 2023 320 Menschen. 320 zu viel. Das kommentierte eine Bekannte mit »Das sind ja nicht viele!«. Aber wie viele cis Personen wurden nur deshalb umgebracht, weil sie cis sind?
Auch am 20. November entschied ich mich dafür, zu Hause zu bleiben. Und das nicht zum ersten Mal. Ja, ich schäme mich dafür. Aber ich hatte zu viel Angst. Ich wurde bereits zweimal völlig ohne jedes Verschulden und ohne jede Aggression meinerseits Opfer einer Gewalttat. Und das hatte nichts mit trans* zu tun! In dem einen Fall wurde ich weiblich gelesen und hatte eine Beziehung beendet, in dem anderen Fall wurde ich männlich und als Punk gelesen, hatte mich lediglich dazu bekannt, Adolf Hitler doof zu finden.
Was also würde mir blühen, wenn ich mich offen als trans Person an einer Demonstration beteilige, bei der ich mich nicht in der Masse anderer queerer Personen verstecken kann wie beim CSD?
Da ich in der privilegierten Position bin, dass man mir nicht ansieht, dass ich ein trans Mann bin, weil ich gutes Passing habe, habe ich die Wahl, mich zu entscheiden. Ich habe die Wahl, mich zu verstecken. Ich habe die Wahl, mich für ein Leben in Angst zu entscheiden. Es kämpfen doch nur die Verzweifelten, die keine Wahl haben, oder?
Aber will ich in Angst leben? Beschneide ich damit nicht meine Freiheit? Bedeutet, sich dem Kampf zu stellen, Freiheit oder ist es nur der Traum von der Freiheit, die möglich sein könnte, wenn der Kampf gewonnen wird?
Meine Freundin Jana ist da ganz anders drauf. Die ist immer auf Krawall gebürstet. Ob das daran liegt, dass sie null Passing hat? Oder war sie schon immer so? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich konfliktscheu hoch zehn bin und sie immer reingeht. Aber so richtig. Aber sie fängt den Streit nie an, verhält sich immer defensiv. Deeskalierend wäre wohl anders … das hängt wohl mit ihren Traumata zusammen, irgendwann klinkt was aus und sie sieht rot. Das können Kleinigkeiten sein wie Misgendern, also die falsche Anrede. Ich meine, man sieht ihr zwar männliche Züge an, aber man sieht auch sehr deutlich, dass sie weiblich angesprochen werden möchte. Sie macht mit Kleidung, Handtasche, Make-Up, Perücke und Schmuck alles, was geht, um als Frau anerkannt zu werden. Geld für Gesichtschirurgie hat sie nicht und auch ihre Körperform muss sie so hinnehmen, wie sie ist. Aber jeden Tag trainiert sie ihre Stimme. Sie hat am Telefon besseres Passing als ich! Ich hab jahrelang gar nicht telefoniert, hab mich einfach gedrückt. Jana hat mich dann unter ihre Fittiche genommen und mir erklärt, welche Übungen es braucht, damit meine Stimme männlicher klingt und dass alleine die Stimmhöhe es nicht ausmacht. Ich bin aber zu faul, die Übungen jeden Tag zu machen. Vielleicht bin ich einfach zu zufrieden, keine Ahnung.
Das ist also Jana. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass sie natürlich jede queere Veranstaltung mitnimmt, insbesondere jene, die trans* betreffen. Sie geht zur Selbsthilfegruppe, zu Podiumsdiskussionen, auf Parteiempfänge und zu jeder Demo. Als hätte sie persönlich sich dem Ziel verschrieben, das Selbstbestimmungsgesetz durchzuboxen, und zwar so, dass es auch tatsächlich eine Verbesserung der rechtlichen Situation von trans Personen in Deutschland bewirkt und keine Verschlechterung.
Natürlich geht Jana auch zum Rainbowflashmob und eben auch zum TDoR. Ohne mich, meistens. Ich lebe eben nicht in einer queeren Blase. Ich habe auch noch Kontakt zu Menschen, mit denen mich nicht ausschließlich verbindet, trans* zu sein. Ich gehe sogar soweit, ich möchte gar keinen Kontakt zu Menschen, mit denen ich keine anderen Themen teile. Ich habe viel mit Autor:innen zu tun. Ja, auch mit queeren Autor:innen, aber eben nicht nur.
Jetzt war es aber wegen des Selbstbestimmungsgesetzes mal ausgesprochen wichtig – wann ist es denn mal weniger wichtig? –, dass auch ich mitkomme und mich auf der Straße zeige. Beim Rainbowflashmob. Einfach nur bunte Pappe hochhalten in die Kamera, kann ja nicht so schwer sein. Es sieht dich auch keiner, sagt Jana. Also, auf dem Foto erkennt man dich nicht, wenn man nicht neben dir gestanden hat und weiß, dass nur du es gewesen sein kannst. Wenn man also weiß, dass ich an dem Tag auf Krücken unterwegs war, dann erkennt man mich auf den ersten Blick, sagt sie und lacht.
Jana hat Rheuma. Aber selbst der schlimmste Schub hält sie nicht von ihrem Aktivismus ab. Sie ist auch schon im Rollstuhl in der CSD-Parade mitgefahren, da kennt sie nichts. Nun also auf Krücken zum Rainbowflashmob.
Wer das nicht kennt: Da gibt es vorne eine Bühne, da redet irgendein mehr oder minder namhafter Politiker aus mehr oder minder freien Stücken. Dann reden noch andere, die Initiatoren der Veranstaltung, es wird den Geldgebern und allen anderen gedankt und so weiter.
Die bunte Pappe holt man sich im Idealfall bereits vor Beginn der Reden, damit man dann auch zuhört, was die meisten ohnehin nicht tun, weil es eine prima Gelegenheit ist, mal wieder mit Weggefährten zu quatschen. Vielleicht müsste man die Boxen noch etwas lauter drehen. Alle stellen sich in der Reihe auf, in der die anderen mit derselben Farbe sind. Damit das auch aussieht wie eine Regenbogenfahne, wird das vorher festgelegt, wo welche Farbe hingehört.
Dann ist da ein Hublift, von dem aus ein Foto gemacht wird. Ob man lächelt, ist zwar im Ergebnis egal, aber es wird trotzdem dazu aufgefordert. Dann alle mal umdrehen, denn vom Hamburger Rathaus aus, in dem schon König Charles zu Gast war, wird noch ein zweites Bild gemacht. Da sind dann die Farben verkehrt herum gereiht, aber das macht dann auch irgendwie nichts. Das Foto vom Hublift kommt in die Zeitung, das vom Rathaus in die Sozialen Medien. Oder so.
Tja, so läuft das eigentlich.
Doch an diesem Tag war alles anders und an denen danach auch.
Jana auf ihren Krücken und ich an ihrer Seite standen mit unseren Pappen in unserer Reihe und warteten darauf, dass der Hublift hochfuhr.
Es kommt immer mal vor, dass Leute zwischen den Reihen durchgehen, weil da aus Gründen eben Platz ist. Für die Ordner. Für Rettungskräfte. Vielleicht auch noch wegen Corona oder weil die Pappen so groß sind. Aus Gründen eben. Und da gibt es Leute, die zu faul sind, einen Umweg zu machen, sondern den Rathausplatz auf dem kürzesten Weg überqueren wollen. Leider sind darunter auch Leute, die ihre Aggressionen dann an den Menschen auslassen wollen, die da gerade stehen. Ob die einfach nur einen schlechten Tag hatten und eben die Person an der Kasse auch schon so behandelt haben oder ob es nun explizit ein queerfeindliches Motiv ist, ausgerechnet auf uns loszugehen, kann ich da gar nicht so genau sagen. Da scheint oft einfach die Gelegenheit die Hassrede zu machen.
Diesmal war es aber ein eindeutiger Fall.
Natürlich war es Jana, an der sich der Hass entzündete. Mit ihren Krücken stand sie da ohnehin schon exponiert.
Warum sie sich so breitmache. Warum sie denn auf den Krücken nicht vernünftig stehen könne. Er sei Krankenpfleger, er kenne sich aus; er wisse, wie man das richtig macht.
Sie brauche seine Hilfe nicht, konterte sie, sie habe die Krankheit seit ihrer Kindheit und kenne sich schon bestens aus.
Warum er sich dann nicht behandeln lasse, fragte er, wohl an mich gerichtet.
Was denn ›er‹ heißen solle, sie sei eine sie.
Misgendern. Das Übliche. Da geht sie sofort hoch.
Woher er das denn wissen solle, sie sehe aus wie ein als Frau verkleideter Mann.
Das ist eine eindeutig transphobe Äußerung, eine Beleidigung, die verletzen soll, nicht mal mehr die eigene Unbeholfenheit kaschiert.
Und er sehe aus wie ein Nazi, echauffierte sich Jana.
Tatsächlich hatte der Mann eine Glatze, wohl mehr aus mangelndem Haarwuchs und Eitelkeit, aber konnte man es wissen? Die Kleidung war unauffällig, der Mann aber groß und breit. Eine Erscheinung, die mich sofort einschüchtert. Da sehe ich auf den ersten Blick, dass ich körperlich unterlegen bin, und lege mich gar nicht erst mit ihm an.
Nicht so Jana. Die gibt nicht klein bei.
Dieser Wortwechsel, der sich in der Erinnerung anfühlt wie in Zeitlupe, ging innerhalb von Sekunden vonstatten und ehe noch irgendjemand reagieren konnte, trat der Mann Jana eine ihrer Krücken weg. Nur eine, aber das reichte. Darauf war sie nicht gefasst und fiel.
Auch ich war zu langsam und konnte sie nicht halten.
Als sie auf dem Boden aufschlug, brach sie sich den Ellbogen.
Erst durch diese Bewegung wurden Umstehende aufmerksam. Der Täter war längst durch die Gasse in der Menge verschwunden.
Ein Krankenwagen wurde gerufen. Die Veranstaltungsleitung redete mit Engelszungen auf sie ein, damit sie auch mitfuhr, um den Arm röntgen und anständig versorgen zu lassen. Sie bestand darauf, dass die Veranstaltung aber ansonsten wie geplant durchgeführt und nicht etwa ihretwegen abgebrochen würde. Nein, das werde man schon nicht tun, da solle sie sich mal keine Sorgen machen.
Ich begleitete sie ins Krankenhaus. Es musste aber tatsächlich nach einem Röntgen nicht mehr als einer dieser modernen bunten Gipsverbände gemacht werden. Sie bekam eine Schlinge um den Hals und das wars. Mit einem Krankentransport fuhren wir zu ihr nach Hause und tauschten Krücken gegen Schieberollstuhl. Und nichts wie zurück zum Rathausplatz.
Wir trafen gerade noch die letzten Freiwilligen an, die den Stand abbauten. Da passierte es.
Jemand rief etwas und plötzlich waren wir umringt von dunkel gekleideten, vermummten Gestalten, die uns offenbar aufgelauert hatten. Ziel des Angriffs war eindeutig Jana, die jetzt zur Abwechslung mal gar nichts sagte.
Man riss mir den Rollstuhl aus der Hand und warf ihn um. Zum zweiten Mal am heutigen Tage küsste Jana die Straße. Diesmal blutete sie am Mund, als sie versuchte, sich aufzurichten. Wie viel Schläge und Tritte sie einstecken musste, bis die Attacke endlich ein Ende fand, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, wie unfähig ich mich fühlte, dem etwas entgegenzusetzen. Wie ohnmächtig.
Jemand anders war geistesgegenwärtiger als ich, indem er nämlich nicht wie gebannt und untätig zusah, sondern sich in Sicherheit brachte und aus gebührendem Abstand die Polizei rief. Die bereitgestellten Beamten waren leider schon wieder abgezogen, nachdem sich unsere Kundgebung aufgelöst hatte.
Den Einsatzkräften und Janas Zähigkeit ist zu verdanken, dass sie noch am Leben ist.
Dieses Ereignis hat mich geprägt. Es hat mir ganz deutlich gezeigt, wie wichtig es ist, auf die Straße zu gehen. Obwohl man Angst hat. Wir müssen zeigen, wie viele wir sind. Damit die Täter sich nicht in der Mehrzahl glauben. Denn dann häufen sich solche Übergriffe.
Seither habe ich keinen TDoR mehr versäumt. Auch wenn ich zum Glück nicht um Jana trauern muss. Doch ich stehe an ihrer Seite.
Und es gibt so viele andere, die wir verloren haben. Und noch viel mehr, die in anderen Ländern in Angst leben müssen, weil sie dort staatlich verfolgt werden, weil sie zum Beispiel trans* sind oder schwul.
Queere Menschen fliehen nach Deutschland, weil sie in ihrem Heimatland vielleicht mit dem Tode bedroht sind, und Deutschland schickt sie wieder zurück.
Am 17. Mai 1994 wurde der §175 StGB abgeschafft, mit dem sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe gestellt wurden. Das ist der Grund, warum wir den Rainbowflashmob jedes Jahr am 17. Mai veranstalten. Es ist jeder dazu eingeladen, sich mit uns zu solidarisieren. Dazu muss man nicht selbst queer sein.
Und was ich jetzt endlich tun werde, ist: Aufstehen. Aufstehen von meinem Schreibtisch und für die Community. Sei es zur Teilnahme an Gedenkveranstaltungen oder weil ich eine Lesung halte mit queeren Texten oder weil wieder Rainbowflashmob ist.
Geschrieben anlässlich eines Schreibwettbewerbs, der nach einer Geschichte fragte, die nur mir und den meinen passieren kann. Jana ist erfunden, Malte C. und der tödliche Angriff auf ihn leider nicht.
Save the date: 31.03. Transgender Day of Visibility, 17. Mai Rainbowflashmob, 20. November Transgender Day of Remembrance
Euer Ingo S. Anders

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